20.01.2016Dritte Veranstaltung „Schule und Psychotherapie“
Intensiver Austausch zwischen Beratungslehrkräften und ambulanten Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutinnen und -Psychotherapeuten

Die Schulpsychologische Beratungsstelle (SPBS) Tübingen organisierte in Kooperation mit der Landespsychotherapeutenkammer (LPK) am 16.12.2015 eine Veranstaltung zum Thema „Schule und Psychotherapie“. Ähnliche Workshops fanden bereits an der SPBS Backnang und der SPBS Aalen statt (Dezember 2014 und November 2015). Ziel dieser Veranstaltungen ist das Kennenlernen und der Austausch der regionalen Beratungslehrkräfte und der im jeweiligen Schulamtsbezirk ambulant arbeitenden Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutinnen und -Psychotherapeuten.

Ablauf der Veranstaltung

Die Veranstaltung fand in der Theodor-Heuss-Schule, Berufliche Schule in Reutlingen, statt. Im Vorfeld war es wichtig, die Teilnehmerzahl abzuschätzen und sowohl hinsichtlich Größe als auch Infrastruktur geeignete Räumlichkeiten zu finden. Für die Unterbringung und organisatorische Unterstützung wird der Schule sowie deren Beratungslehrer Michael Scheffner noch einmal ein herzlicher Dank ausgesprochen. Grußworte sprachen der Schulleiter Horst Kern, der Präsident der LPK Herr Dr. Munz sowie der Leiter des Staatlichen Schulamts Tübingen Herr Hocker. Durch den Tag führten Renate Maier-Baudis (Fachbereichsleitung) und Heike Hufnagel von der Schulpsychologischen Beratungsstelle.

Zunächst referierte Kammerpräsident Dr. Dietrich Munz über die Tätigkeit niedergelassener Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutinnen und -Psychotherapeuten. Er gab einen Überblick über die Anzahl und fachliche Ausrichtung dieser Gruppe, sowohl für Baden-Württemberg als auch für die Regionen Tübingen und Reutlingen. Herr Dr. Munz thematisierte die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Baden-Württemberg, die besonders in ländlichen Gebieten häufig unzureichend ist. Die Versorgungslage kommt durch die Therapeutenzahl im Verhältnis zur Einwohnerzahl sowie in Form von Wartezeiten auf einen Therapieplatz zum Ausdruck. Herr Dr. Munz ging auch auf die gesetzlichen Richtlinien für eine Psychotherapie ein und zeigte auf, dass Vernetzung wichtig ist, um Kinder und Jugendliche während einer Therapie sowohl (schul)organisatorisch als auch bei der Beziehungsgestaltung zu unterstützen. Als Vertreter der LPK machte er auch auf die gesundheitspolitische Relevanz dieser Vernetzung aufmerksam, denn für solche Kontakte stehen keine Ressourcen zur Verfügung. Bei der Netzwerkarbeit sehen sich Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten häufig in einem Dilemma bezüglich ihrer Schweigepflicht: Einerseits wurde ein Vertrauensverhältnis zu den Kindern, Jugendlichen und ggf. zu deren Eltern aufgebaut, welches sie auf jeden Fall schützen möchten, andererseits ist es ihnen ein Anliegen, die Schulen – im Rahmen des Notwendigen – über die Klienten zu informieren und für deren Bedürfnisse um Verständnis zu werben.

Danach informierte Schulpsychologin Melanie Schorr über die Aufbauorganisation der Schulpsychologie in Baden-Württemberg sowie zentrale berufliche Handlungsfelder, auch im Hinblick auf die regionale Situation. Der an die Beratungsstelle abgeordnete Beratungslehrer Frieder Sigloch gab einen Überblick über seine Ausbildung, sein Tätigkeitsspektrum sowie über Angebote der Beratungsstelle für Beratungslehrkräfte. Das Zusammenspiel zwischen Schulpsychologie und Beratungslehrkräften wurde durch die beiden Beiträge deutlich: Beratungslehrkräfte versorgen die Schulen vor Ort durch ihre direkte Ansprechbarkeit und Beratungskompetenz. Die Schulpsychologie konzentriert sich auf Beratungsanfragen, die direkt an sie gerichtet werden, sowie auf weitere schulische Anfragen wie Fortbildung, Supervision und Coaching für Lehrkräfte, Unterstützung bei Krisen und Konflikten, Schulentwicklung und Prozessbegleitung. Die beiden Gruppen gewährleisten somit ein regional weit verzweigtes und inhaltlich breit gefächertes Unterstützungssystem für die Schulen.

Die besondere institutionelle Ausstattung in den Landkreisen Tübingen und Reutlingen wurde durch Beiträge von Vertreterinnen der Kinder- und Jugendpsychiatrie, (Dr. Ute Dürrwächter) sowie der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz (Dr. Tanja Tan-Tjhen) berücksichtigt. Sie referierten über die Struktur und Arbeitsweise ihrer Organisationen. Zusätzlich gaben sie Einblicke in Behandlungsschwerpunkte, Gruppenprogramme, Spezialsprechstunden und Forschungsinteressen. Kooperation bietet auch hier Mehrwert und Synergien im Sinne von kurzen Wegen, adäquater Akut- und Nachversorgung sowie auf besondere Bedarfe abgestimmte Angebote. Die Referentinnen betonten die hohe Relevanz von Schulen für verschiedene Bereiche der Therapie, wie Informationsgewinnung, Transfer, Reintegration, und bezeichneten Schulen deswegen als bedeutsame Kooperationspartner.

Nach diesen fachlichen Einstimmungen erfolgte der Übergang zum Kernstück der Veranstaltung: Der Austausch zwischen den Beratungslehrkräften mit den Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. In mit der „World-Café“-Methode angeleiteten Diskussionsrunden thematisierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verschiedene Leitfragen. Die Austauschrunden wurden von Julian Hof und Susanne Theurer von der Schulpsychologischen Beratungsstelle moderiert.

Zentrale Ergebnisse der Austauschrunden

Im Folgenden werden die Hauptergebnisse zu den Leitfragen aufgeführt. Die Antworten wurden aufgrund von Mehrfachnennung sowie nach inhaltlichen Schwerpunkten gebündelt.

An positiven Erfahrungen in der Zusammenarbeit wurden gemacht:
• Es werden Chancen für das Kind gesehen!
• Eine wachsende Sensibilität für Therapiebedarf, Therapiebereitschaft sowie die Bereitschaft, zu Gesprächen bei der Ambulanz mitzugehen. Keine Probleme im Zusammenhang mit der Schweigepflicht / Schweigepflichtentbindung.
• Als geeignete Form der Zusammenarbeit werden Runde Tische genannt: Für Netzwerkarbeit in komplexen Problemstellungen, zur Aufrechterhaltung der Motivation sowie zum besseren Verständnis der Kinder und dessen, was Therapie ist und wie sie wirkt.
• Es werden auch Personengruppen genannt, mit denen eine fruchtbare Zusammenarbeit stattfand: Beratungslehrkräfte, Schulsozialarbeit, Lehrkräfte, Erziehungsberatung, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Klinikschule.

An Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit wurden genannt:
• Ein Bedarf an grundlegenden Informationen wie Kennenlernen der Beteiligten / voneinander wissen, Adressen, Zuständigkeiten, Arbeits- und Vorgehensweisen sowie deren Grenzen.
• Bezüglich Zeit und Terminfindung: Unbekannte sowie unterschiedliche Sprechzeiten, fehlende Ressourcen für Gespräche sowie lange Wartezeiten für Psychotherapie.
• Die Aufhebung der Schweigepflicht bereite Probleme, vor allem wenn eine Partei (Kind, Eltern) dies nicht wolle oder die Erziehungsberechtigung unklar sei.
• Auch die Vereinbarkeit von (Ganztages)Schule mit Therapieterminen bedarf individueller Klärung.
• Darüber hinaus wurde der Wunsch nach Strategien geäußert, die Inanspruchnahme von Therapie zu enttabuisieren, Eltern zu ermutigen sowie Wartezeiten zu begleiten.
• Außerdem sollte grundsätzlich Information zwischen den Systemen ausgetauscht werden / Informationsfluss stattfinden (Therapie, Medizin, Schule, Jugendhilfe).

Folgende Wünsche für die Zusammenarbeit wurden geäußert:
• Viele der bei „positive Erfahrungen“ und „Schwierigkeiten“ genannten Punkte wurden als Wünsche formuliert: Kooperation, Runde Tische, gegenseitiges sich Kennenlernen, Informationen über Adressen, Arbeitsweisen, abgestimmte Unterstützung des Kindes / Jugendlichen, Ressourcen für die Bewältigung dieser Anliegen.
• Zur Frage, wie Psychotherapeuten-Adressen gefunden werden können, wurde auf die Suchfunktionen auf den Homepages der Landespsychotherapeutenkammer (http://www.lpk-bw.de/psd_suche.php) und der Kassenärztlichen Vereinigung (http://www.arztsuche-bw.de) verwiesen.
• Beide Gruppen formulieren ihre Bereitschaft zur gegenseitigen Unterstützung, die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten baten zusätzlich um Verständnis für Therapie als zu schützender Raum.
• Ebenso befürworten beide Gruppen einen weiteren Austausch, um die genannten Punkte anzugehen und fortzuführen – und machen auf ihre begrenzten zeitlichen und monetären Ressourcen aufmerksam, die solche Aktivitäten nicht vorsehen.
• Dem entsprechend wurden weitere (lokale) gemeinsame Veranstaltungen zur Fortführung des begonnenen Austauschs vorgeschlagen, auch mit Informations- und Fortbildungsanteilen.

Auf die Frage, was jede(r) Einzelne zur Verbesserung beitragen könnte, wurden folgende Vorschläge unterbreitet:
• Von Seiten der Beratungslehrkräfte wird die Möglichkeit gesehen, als Bindeglied zwischen Therapie und Klassenlehrer/-in zu agieren, auch im Hinblick auf die Kommunikation mit Ärzten und Eltern. Informationen über schulrechtliche Aspekte, z.B. Klassenarbeiten nachschreiben nach Klinikaufenthalt, könnten von der Beratungslehrkraft eingeholt werden. Des Weiteren könnte die Beratungslehrkraft eine Therapeutenliste beschaffen und kategorisieren (Symptome, Probatorik, therapeutische Ausrichtung) sowie die schulischen Zuständigkeiten (Beratungslehrkraft, Schulsozialarbeit) transparent machen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, Experten zu einer Lehrkräftekonferenz einzuladen, zum Beispiel Autismus-Beauftragte.
• Die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten schlagen Netzwerkarbeit innerhalb ihrer Gruppe sowie mit Ärzten vor, auch für die Weitervermittlung von Anfragen, um Wartezeiten zu verkürzen. Außerdem sind thematische Vorträge und Workshops im Rahmen eines Besuchs von Lehrerkollegien vorstellbar, auch unter Einbindung von Eltern und Schülern (Klassen). Dabei könnte über die eigene Arbeit informiert und dafür sensibilisiert werden. Dazu würde gehören, Schulen auf die Notwendigkeit aufmerksam zu machen, vor dem Hintergrund der Inanspruchnahme einer Therapie vereinzelt am Nachmittag Unterrichtsfreiheit zu gewähren. Auch könnte innerhalb der eigenen Gruppe dafür geworben werden, Ärger auf Schulen wegen Terminschwierigkeiten bei Psychotherapie am Nachmittag abzubauen. Bei den Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten besteht eine Bereitschaft, Lehrkräfte vor, während und nach einer therapeutischen Behandlung von Schülern zu unterstützen. Für die Arbeit an Schulen vor Ort kam die Idee eines „Psychomobils“ auf.
• Im Hinblick auf den Kontakt der beiden Gruppen miteinander wird eine von Respekt und Achtsamkeit geprägte Gesprächskultur vorgeschlagen. Außerdem eine schnelle Kontaktaufnahme für den Informationsaustausch sowie Erreichbarkeit (Anrufbeantworter). Die gegenseitige Kontaktaufnahme und Abstimmung wird auch als sinnvoll erachtet, um gemeinsam bei Eltern um Verständnis für das Kind und für die therapeutische Arbeit mit dem Kind zu werben.
• Für die weitere Vernetzung wird eine regelmäßige Wiederholung der Veranstaltung genannt, gerne wieder mit Information über die Arbeitsfelder sowie mit Fallbesprechung. Auch die Schulsozialarbeit könnte dabei eingebunden werden. Noch lokalere bzw. noch mehr von Regionalität geprägte Veranstaltungen seien notwendig, zum Beispiel in einem Zeitrahmen von zwei bis drei Stunden. Eine Bereitschaft zur Teilnahme an solchen Veranstaltungen wurde signalisiert.

Zentrale Ergebnisse der Veranstaltungsevaluation

Der Workshop war aus Sicht der Veranstalter ein voller Erfolg. Es nahmen insgesamt ca. 80 Beratungslehrkräfte sowie Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten teil, ungefähr drei Viertel davon waren Beratungslehrkräfte. Im Folgenden werden die Hauptergebnisse der Veranstaltungsevaluation dargelegt. Die Antworten wurden auch hier aufgrund von Mehrfachnennung sowie nach inhaltlichen Schwerpunkten gebündelt.

Die Veranstaltung wurde mehrheitlich ausgesprochen positiv evaluiert. Mehrfach gelobt wurde die Veranstaltungsidee als solche, auch im Hinblick auf die Förderung der Kooperation. Die Teilnehmenden schätzten die „Expertendichte“ und der Austausch wurde als konstruktiv sowie auf Augenhöhe erlebt. Häufiger gewürdigt wurden die Veranstaltungsorganisation und -struktur, die zeitliche Konzeption und der Informationsgehalt, auch der Überblick über die Institutionen. Mehrmals wurde von den Teilnehmenden angegeben, dass die Veranstaltung sie zur weiteren Zusammenarbeit motivieren würde.

An Optimierungsvorschlägen wurde am häufigsten eine bessere regionale Vernetzung genannt, also die Zuordnung von Beratungslehrkräften zu Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten aufgrund von Dienst-/Arbeitsorten. Mehrfach geäußert wurde der Wunsch nach einer geringeren zeitlichen Dichte, vor allem im Hinblick auf die Diskussionsrunden. Einige Personen befürworteten, die Schulsozialarbeit als weitere Gruppe einzubeziehen. An inhaltlichen Vorschlägen für eine Fortführung reichte die Spannbreite von allgemeinen Informationen wie am Veranstaltungstag, bis zur Empfehlung, einzelne Punkte intensiver und konkreter zu besprechen. Als dafür geeignete Methode wurde die Arbeit an bestehenden bzw. die Erarbeitung von Leitfäden für die Zusammenarbeit sowie die Arbeit mit Fallbeispielen erwähnt.

Ausblick

Aufgrund der außerordentlich positiven Resonanz zur Veranstaltung wird überlegt, wie eine Fortführung aussehen könnte. Vor allem der Gedanke der Regionalisierung erscheint als fruchtbar, sowohl im Sinne der Teilnehmergruppen als auch von Kindern, Jugendlichen sowie Eltern, die eine Psychotherapie erwägen oder bereits eine Psychotherapie in Anspruch nehmen. Auch eine überregionale Fortführung mit allen Beratungsstellen, an denen eine solche Veranstaltung durchgeführt wurde, sowie mit der Landespsychotherapeutenkammer erscheint lohnenswert. Dann würden nicht die Regionalisierung, sondern andere Aspekte im Vordergrund stehen. Eine weitere mögliche Konstellation für eine überregionale Fortführung ist die Federführung durch die Landespsychotherapeutenkammer unter Einbeziehung der Beratungslehrkräfte und der Schulpsychologie als Teilnehmergruppen. Derzeit findet ein Austausch zu diesen Möglichkeiten statt.

Besonders freuen würden sich die Autoren, wenn durch diesen Artikel weitere Schulpsychologische Beratungsstellen animiert werden, eine ähnliche Veranstaltung bei sich durchzuführen. Die Veranstaltungskonzepte der Schulpsychologischen Beratungsstellen Tübingen, Aalen und Backnang waren auf die jeweiligen regionalen Belange angepasst. Dem entsprechend könnten auch von einer anderen Beratungsstelle die bestehenden Konzepte aufgegriffen und variiert werden.

Für Rückfragen oder die Anbahnung einer Kooperation stehen gerne zur Verfügung:

• Kolleginnen und Kollegen, an deren Beratungsstelle eine Veranstaltung zum Thema durchgeführt wurde:
Heike Hufnagel, Schulpsychologische Beratungsstelle Tübingen, heike.hufnagel[at]ssa-tue.kv.bwl.de;
Dr. Eva Schwämmlein, Schulpsychologische Beratungsstelle Backnang, eva.schwaemmlein[at]ssa-bk.kv.bwl.de;
Thomas Hönig, Schulpsychologische Beratungsstelle Aalen, thomas.hoenig[at]aal.ssa-gp.kv.bwl.de;

• Ansprechpartner bei der LPK:
Dr. Rüdiger Nübling, Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg, nuebling[at]lpk-bw.de

 
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